Klimawandel

Flirt mit der Apokalypse

Fotos: Li-An Lim/Unsplash, Daniel Brinckmann (6)

Auf mehr als 70 Prozent der Erdoberfläche speichern die Meere seit Beginn der Industrialisierung „unser“ CO2, beeinflussen unser Klima an Land, kühlen die Atmosphäre und sichern – heute noch – das Überleben einer Weltbevölkerung, die eben die 8-Milliarden-Grenze überschritten hat. Als vermeintliches Perpetuum mobile haben die Meere über Jahrtausende unserer Spezies mehr Wohlstand beschert als alle Unternehmen dieser Welt es vermögen. Der Haken: Die Maschine läuft nicht mehr rund. Der Klimawandel hebt die komplexen Mechanismen in den Weltmeeren mit zunehmender Geschwindigkeit aus den ewigen Fugen – dabei hängt vom Zustand der Ozeane kaum weniger ab als die Zukunft der Menschheit. 

Text: Daniel Brinckmann

Kein Land in Sicht: Smog in Kairo

Immer extremeres Wetter 

Man muss nicht (mehr) weit reisen, um dem Klimawandel leibhaftig zu begegnen. Eine Studie renommierter internationaler Klimaforscher (die „World Weather Attribution“ mit Sitz in Oxford) hat inzwischen den Zusammenhang zwischen der Erderwärmung und den dramatischen Hochwasserkatastrophen an Ahr, Erft und Maas im Juni bestätigt. Die 220 Menschen, welche direkt oder indirekt durch die nur drei Tage andauernden sintflutartigen Regenfälle ums Leben kamen, waren damit nach offizieller Lesart die ersten Opfer des Klimawandels hierzulande. Vertreter der Generation Ü40 erinnern sich an verschneite Winter im deutschen Flachland, an Sommer, die mit einem Gewitter-Knall endeten und eine deutlich greifbare Veränderung des Wetters seit den 1980ern. Doch hat es den Anschein, dass die drei aufeinanderfolgenden offiziell deklarierten Dürrejahre ab 2017 mitsamt Rekordsommer von der nicht betroffenen Öffentlichkeit vor allem als extralange Badesaison und Möglichkeit, Feigenbäume und Bananenstauden im Garten anzupflanzen, begrüßt wurden. Ein Teil der Gesellschaft folgt dem Trend zum Zweit-SUV, ein anderer bemerkt die rissige Erde, das Sterben alter Baumbestände und trägt Wassereimer zu trockenfallenden Tümpeln, um Kaulquappen zu retten…
Dürren, apokalyptische Waldbrände und Desertifikation auf der einen, Überschwemmungen, häufigere Wirbelstürme und Aufblühen von Wüsten auf der anderen Seite – das immer extremere Wetter scheint unberechenbar und wird, ebenso wie der gesamte Klimawandel, erst dann nachvollziehbar, wenn die eng miteinander verflochtenen Einflussfaktoren isoliert werden. Und die entstehen zu einem großen Teil in und über den Ozeanen in einer gigantischen nautischen Wetterküche, von der unser aller Zukunft abhängt. Spätestens seit der Industrialisierung im 18. Jahrhundert binden die Ozeane auf mehr als 70 Prozent der Erdoberfläche eine beständig steigende Menge an Treibhausgasen, welche die Sonnenenergie als Wärme in der Atmosphäre einschließen.

Brände im ausgetrockneten Okavango Delta im südlichen Afrika

Die Ozeane stehen vor dem Wärmekollaps

Doch der gigantische Kohlendioxid-Speicher, gegen den selbst die Grünen Lungen des Planeten winzig erscheinen, kommt angesichts der Folgen der globalen Überbevölkerung an seine Belastungsgrenze: Die Ozeane stehen vor dem Wärmekollaps. Aufgrund der höheren Dichte des Wassers heizen sich die Meere nicht nur deutlich schneller auf als die Luft, sie speichern die Temperatur auch länger. Durch diesen Effekt entfallen seit den 1950er-Jahren mehr als 90 Prozent der Erderwärmung auf die Meere. Während die Temperaturen an Land nur marginal gestiegen sind, haben Treibgas-Emissionen im vergangenen Vierteljahrhundert eine unvorstellbare Größenordnung von Wärmeenergie in den Ozeanen gebunden, die 3,6 Milliarden Hiroshima-Atombombenexplosionen entspricht. Eine im Fachmagazin „Advances in Atmospheric Sciences“ veröffentlichte Studie von 14 Wissenschaftlern besagt, dass die seit den 1960ern konstant gestiegenen Meerestemperaturen nie höher waren als zum Zeitpunkt der Messungen im Jahr 2019 und dass beileibe nicht nur die Oberflächen-nahen Regionen, sondern selbst die Tiefsee in zwei Kilometer Tiefe betroffen ist. Das Schmelzen der polaren und weltweiten Schnee- und Eisdecken sorgt gleichzeitig dafür, dass weniger Sonnenenergie ins Weltall reflektiert wird, was den Prozess der Erderwärmung zusätzlich beschleunigt.

Beginn der Korallenbleiche

Das Abschmelzen der globalen Eisschilde – ein Supergau

Seit 1993 hat sich die Geschwindigkeit der Meereserwärmung verdoppelt. Laut dem Zwischenbericht des Weltklimarates IPCC wird das Abschmelzen der globalen Eisschilde den Meeresspiegel bis zum Jahr 2100 um 40 Zentimeter bis über einen Meter ansteigen lassen, was nicht nur für die Inselnationen im Pazifik und Indischen Ozean einem Supergau gleichkommt. Rund um den Erdball werden sandige Meeresufer abgetragen, natürliche Barrieren wie Mangroven, Salzmarschen und Küstenwälder wurden im vergangenen Jahrhundert auf 50 Prozent ihrer Fläche reduziert und schiffbar gemachte Flussdeltas geben Küstenmetropolen früher oder später Überflutungen preis. Bereits heute kämpfen zahlreiche Länder entlang ihrer Meeresküsten mehr oder weniger hilflos gegen die Folgen der Erosion. Ob nun Sandsäcke auf den Stränden der Malediven oder Schleusensysteme, welche die Lagunenstadt Venedig vor den immer häufigeren Frühjahrsfluten schützen sollen – die punktuellen Maßnahmen muten hilflos an wie Pflaster auf einer Fleischwunde.

Schutz vor Überflutungen: Sandsäcke auf den Stränden der Malediven

Unterwasserbiotope werden zu sauerstofffreien Todeszonen

Die gigantischen Mengen Süßwasser, welche durch das Abschmelzen der globalen Eismassen in die Ozeane gelangen, lassen nicht nur den Meeresspiegel steigen. Sie verändern den pH-Wert des Wassers ebenso wie die grenzwertige Sättigung mit Kohlendioxid und anderen Treibhausgasen. Die Übersäuerung der Meere greift unzählige der für uns so überlebenswichtigen Sauerstoff-Produzenten an – auf einem Kalkskelett basierende Organismen wie Muscheln und Korallen ebenso wie Seegraswiesen und produktive Algenwälder, die schon heute auf 40 Prozent ihrer ursprünglichen Größe zurückgegangen sind. An ihre Stelle treten durch steigende Wassertemperaturen begünstigte Blüten von Schleimalgen – wie   am Bosporus geschehen – welche ganze Unterwasserbiotope in sauerstofffreie Todeszonen verwandeln. Meereserwärmung und Ozeanversauerung trennen Wasserschichten voneinander, deren Sauerstoffgehalt auf Durchmischung basiert, was nicht nur Tieren die Überlebensgrundlage entzieht, sondern die globalen Meeresströmungen beeinträchtigt. Während sich von ozeanischen Strömungen abgeschnittene Binnenmeere je nach ihren regionalen Dispositionen verändern und die existierenden Ökosysteme an die Grenzen ihrer Anpassungsmöglichkeiten bringen werden – für die Ostsee wird ein dominanter Einfluss von kaltem Süßwasser prognostiziert, für das Mittelmeer eine starke Erwärmung mit einer höheren Salzkonzentration Wasser – wird sich das ineinander greifende Netzwerk der großen marinen Förderbänder in einer Art und Weise verändern, die noch nicht absehbar ist. Bereits heute ist etwa der Golfstrom, ohne den in Paris Temperaturen wie in Neufundland herrschen würden, so schwach wie seit 1600 Jahren nicht mehr. Eiswüsten in Europa und Amerika? Horror-Szenarien wie im Blockbuster „The Day after Tomorrow“ aus dem Jahr 2004 sind nicht wahrscheinlich – zumal die Erderwärmung dem Prozess entgegenläuft – doch möchte sich wohl niemand ernsthaft die Auswirkungen stark abgeschwächter Meeresströmungen auf das globale Klima und die Lebenswelt von Mensch und Tier vorstellen. Die ersten Anzeichen gibt es ohnehin längst und sie sind hässlich bis herzzerreißend.
Der Autor dieser Zeilen war dabei, als im Juni 2014 die kalte Tiefenströmung vor Südafrika auf sich warten ließ und sich damit auch die größte Tierwanderung der Welt, der „Sardine Run“ verspätete, sodass hungernde Seelöwen Möwen erbeuteten, um deren Mageninhalt zu fressen. Oder im März 2015 vor der Galapagos-Insel Isabela, als die einmaligen Meerechsen aufgrund einer weiteren El Nino-Warmwasserwelle abgemagert auf den Lavafelsen hungerten. Und genau ein Jahr später auf den Malediven, als sich die Lagune zunächst grün färbte bis drei Wochen später geisterhaft ausgeblichene Korallen neben gesunden von der Oberfläche betrachtet das Bild eines gigantischen Schachbrettes abgaben.

Grün verfärbte Unterwasserwelt

Tausende Hektar von Korallenriffen sind verloren

Obwohl Korallen kurzfristige Hitzewellen mitsamt der gefürchteten Bleiche derzeit noch überleben können, sind ihre Tage gezählt, sobald die Temperaturen in den Ozeanen konstant ein bis zwei Grad Celsius überschreiten. Tausende Hektar von Riffen, wie etwa das nördliche Große Barriereriff und Teile des Golfes von Thailand und der Malediven sind bereits verloren – mit ihnen untrennbar verbundene Biotope und damit die Existenzgrundlagen von Touristikern wie Fischern. Tendenz zunehmend. Während sich in gemäßigten Meeren schleichend tropische Spezies breitmachen, die von Räubern kaum als Beute erkannt werden und Jungfische angestammter Arten dezimieren, wie etwa Rotfeuerfische in der Karibik und zunehmend so auch im Mittelmeer, wandern die untersten Glieder der heimischen marinen Nahrungskette instinktiv nach Norden und Süden in kühlere Gewässer ab. Fischschwärme und Räuber folgen ihnen, zum Beispiel die beständig nach Norden wandernden Heringsschwärme und Orcas in Norwegen. Einfache Fischer in Entwicklungsländern wie Marokko oder Somalia, deren Fanggründe ohnehin von internationalen Flotten geplündert wurden, stehen ebenso vor dem Ruin wie Bauern entlang von Euphrat und Tigris, denen das Flusswasser vom Nachbarland abgezweigt wird. Das ebnet den Weg für politische Unruhen, Massen-Migration und Terrorismus …

So sieht ein (inzwischen seltenes) gesundes Korallenriff aus

Können die weltweiten Ökosysteme Schritt halten?

Es bleibt abzuwarten, ob die weltweiten Ökosysteme Schritt halten können mit der Geschwindigkeit des Wandels. Wenn nur ein Element einer Nahrungskette nicht widerstandsfähig genug ist oder ein anderes Lebewesen die Nische füllt, kollabiert über kurz oder lang das ganze Konstrukt und entsprechend wird auch die regionale Fischerei unrentabel. Langfristig gilt Ähnliches auch für unsere auf maximalen Ertrag ausgerichtete Landwirtschaft mit Getreide-, Obst- und Gemüse-Sorten, die auf unser Klima geeicht sind. Ganz gleich, ob Fisch oder exotische Feldfrüchte, am weiteren Horizont bleiben zwei Optionen: Das Beibehalten der klassischen, internationalen Produktionsketten als systematischer Klimakiller – Garnelen aus dem Eismeer, gepult in Marokko, exportiert in die EU – welche mit einer enormen Teuerungsrate dazu beitragen wird, dass aus normaler Supermarkt-Ware Luxusgüter werden. Oder der Fokus auf regionale Produkte. Ein erster Schritt wäre gar nicht so schwer: bewusste Entscheidungen im Alltag. Ist es nötig, dass der Fernseher auf Standby geschaltet und nicht einfach ausgeschaltet wird? Geht es nicht ohne Böller? Sind Erdbeeren im Winter unverzichtbar? Warum nicht mal das Fahrrad nehmen und der morgendlichen Blechlawine ein Schnippchen schlagen? Der tägliche Kampf mit dem inneren Schweinehund ist bekanntlich kein leichter. Aber würde ein wenig Verzicht zum globalen Narrativ von Milliarden Menschen, dann wäre es – frei nach Neil Armstrong – nur ein kleiner Schritt für jeden, aber ein großer Schritt für die Menschheit. Einer, welcher der nächsten Generation vielleicht ein paar zusätzliche glückliche Jahrzehnte schenken würde.