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Hochsee

Wüste, Hölle, Lebensspender

Fotos: Daniel Brinckmann

Tiefes Tintenblau, unendliche Wasserflächen und haushohe Wellenberge in für uns Menschen schier unvorstellbaren Größenordnungen – der offene Ozean bedeckt etwa die Hälfte der Erde und schürt Ehrfurcht wie Furcht. Selbst ein gutes halbes Jahrtausend, nachdem die großen Entdecker und Navigatoren mit Hilfe von Sextanten und Sternenzelt, Kompass, primitiven Karten und oft genug nur mit dem Mut der Verzweiflung nach Wochen zwischen Hoffen und Bangen der lebensfeindlichen „blauen Hölle“ entronnen sind, ist die Oberfläche des Mondes besser erforscht als die Tiefen des offenen Meeres.

Text: Daniel Brinckmann

Pottwal-Mutter mit Kalb vor der Küste Madeiras.

Der gewaltige Meereskosmos verbirgt seine Geheimnisse 

Wie nur wenige andere Sphären verbirgt der gewaltige Meereskosmos seine Geheimnisse. Er verweigert sich mit unendlichen Weiten, extremen Tiefen und wildem Wetter scheinbar hartnäckig der Wissenschaft, die sich nur mit enormem logistischen und finanziellen Aufwand den tierischen Forschungsobjekten nähern kann. In diesem Lebensraum der Extreme wird keiner Lebensform etwas geschenkt. Mit Ausnahme von Versteckmöglichkeiten wie Sargassum-Tang oder Treibgut, mit dem auch tropische Irrgäste mitunter ganz fremde Gestade erreichen, haben nur Tarnkünstler, Schwarmfische, Giganten, Parasiten und ausgesprochen wehrhafte Organismen realistische Überlebenschancen. Noch leben dort draußen die Superlative mit Flossenantrieb: Blauwale, Orcas, Makohaie, Marlins, Thunfische, Mondfische, unüberschaubar große Schwärme von Hochseefischen, aber auch „Anhalter in der blauen Galaxis“ wie Schiffshalter, Pilotfische und parasitische Ruderfußkrebse, oder mit hochgiftigen Nesselkapseln ausgestattete Staatsquallen wie die Portugiesische Galeere, deren Schwimmkörper diesseits der Oberfläche an eine Badehaube erinnert. Der Stoff eben, aus dem die besten Meeresdokumentationen gestrickt sind.

Mondfisch

Die Produktivität einer Hochseeregion unterliegt saisonalen Schwankungen

Ihre wenig schmeichelhafte Bezeichnung als „Blaue Wüste“ verdankt die Hochsee gleichermaßen der im Vergleich mit Korallenriffen geringen Biomasse und den sehr überschaubaren Nahrungsquellen. Fernab der Küsten mit ihrem Sediment- und Nährstoffeintrag bilden in den sonnendurchfluteten Wasserschichten des offenen Meeres allein einzellige Algen, speziell Kieselalgen, als Phytoplankton die Grundlage allen Lebens. Entsprechend unterliegt die Produktivität einer Hochseeregion bereits auf der allerersten Stufe des Nahrungsnetzes saisonalen Schwankungen wie Sonneneinstrahlung und Jahreszeit, Temperatur und Strömungen. Dort, wo nährstoffreiche Strömungen aus der Tiefsee an die Oberfläche steigen – etwa an den Rändern unterseeischer Gebirge – und in Gebieten, in denen warme auf kalte Strömungen treffen, gibt es reichlich Nahrung und zu bestimmten Zeiten Planktonblüten, denen Meeres-Riesen wie Bartenwale, Wal- und Riesenhaie sowie Manta- und Mobula-Rochen zielsicher über tausende Kilometer hinweg folgen. Deutlich präziser und pünktlicher übrigens, als es Berufsfischer, Filmcrews und Ökotourismus-Anbieter trotz modernster Technik und Luftunterstützung vermögen.

Ein ebenso bekanntes wie anschauliches Beispiel für Wanderverhalten, Jagd- und Überlebensstrategien im offenen Meer ist der „Sardine Run“ – die größte Tiermigration der Welt. Nach ihrem Zug aus den Südpolar-Gewässern sammeln sich Millionen von Sardinen im offenen Meer vor Südafrikas Kap-Region, um beim Erreichen einer kritischen Masse entlang der 17°C-Thermokline nach Osten in ihre Laichgewässer zu ziehen. Im Gegensatz zu den Anbietern von Meeressafaris, die den Beginn des Fischzuges bestenfalls mit lokalen Scouts halbwegs einkreisen können, folgen die Tiere einfach nur der optimalen Strömung. Und die Räuber folgen ihrer Spur. Eingekreist von Seevögeln, die mit knapp hundert Stundenkilometern in den Schwarm hineinstoßen, von Delfinen, die als Lungenatmer den seitlichen Flachwasserbereich kontrollieren und von Haien, die von unten in den Schwarm preschen, ergreifen die Sardinen instinktiv die beste Überlebenstaktik: Die kleinen Fische drängen sich so dicht Körper an Körper, dass der Schwarm aus der Vogelperspektive an einen Ölteppich erinnert, und formen dabei eine Kugel („Baitball“), um den Räubern möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Dabei nützt den Gejagten das koordinierte Schwarmverhalten. Auf den Vorstoß eines Räubers hin weichen ganze Segmente des Fischschwarms aus und sobald eine Achse der Jäger den Angriffsdruck vermindert, brechen Teile des Fischballs aus der Zwickmühle aus und ermöglichen dem gesamten Schwarm die Flucht. Sofern sich nicht von unten ein Brydewal nähert und mit seinem Scheuentor von einem Maul die Show in Sekunden beendet.

Manta mit Pilotfischen.

Die größten Leidtragenden sind Hochseehaie

Gemeinschaftliche Beutezüge mit so ungleichen Akteuren wie Säugetieren, Vögeln und Raubfischen, oder auch die hoch entwickelten Treibjagden von Delfinen und anderen Meeressäugern im Familienverband, ereignen sich tagtäglich in allen Weltmeeren – mit jenen Arten, die in der entsprechenden Region die jeweilige biologische Nische füllen. Sofern sie dort noch in ausreichender Menge vorkommen und nicht längst der unkontrollierten Fischerei zum Opfer gefallen sind. Ganz gleich, ob sie nun als Zielart wie Makrele, Schwert- und Thunfisch, oder im Fall der Haie als vermeintlicher Beifang deklariert werden. Die Betreiber der großen Fabrikschiffe, die außerhalb nationaler Gewässer die Nachfrage von Milliarden Menschen nach billigem Fisch decken, verfügen nicht nur über modernste Ortungstechnik und Luftunterstützung, sondern kennen auch die Wanderrouten ihrer Zielarten und die Meeresregionen, die zur entsprechenden Jahreszeit dank Plankton-Upwellings oder nahe gelegener Seeberge besonders fischreich sind. Auch wenn diverse über mehr oder weniger dubiose Stiftungen finanzierte Werbesiegel nachhaltige Fischerei vorgaukeln: Die industrielle Fischerei selektiert nicht und orientiert sich allein an Gewinnmaximierung, sofern sie nicht gesetzlich dazu gezwungen ist. Beim Fang von Hochseefischen – ganz gleich, ob gewaltige Ringwaden-Netze oder mit Millionen Haken gespickte Langleinen zum Einsatz kommen – werden tagtäglich genügend Räuber getötet, um auch diese Arten an den Rand des regionalen Aussterbens zu bringen. Die größten Leidtragenden sind Hochseehaie, die aufgrund der Nachfrage aus Fernost und Asia-Restaurants weltweit schon lange nicht mehr als Beifang behandelt werden, selbst wenn sie als solcher deklariert werden. Zumal die mittlerweile in zahlreichen Hoheitsgewässern verbotene Praxis des „Finning“ – das Abschneiden von Haiflossen, häufig mit Entsorgung der Körper, um Platz im Laderaum zu sparen – im rechtsfreien Raum des offenen Meeres weiter praktiziert werden kann und der Transport über Mutterschiffe in Drittländer erfolgt. Sang- und klanglos verschwinden so auch die weltweit gefährdeten und vielerorts auf dem Papier geschützten Weiße Haie, die ebenso wie andere seltene Großfisch-Arten zur Zielscheibe werden, sobald sie ihre Küstenreviere verlassen und über tausende Kilometer lange Wanderungen von Australien nach Südafrika, von Hawaii nach Kalifornien und Mexiko oder von Florida bis zum Mittelatlantischen Rücken antreten. Dabei orientieren sie sich ebenso wie andere Arten vermutlich am Magnetfeld der Erde, an Temperaturverläufen, markanten Unterwassergebirgen und den dominanten ozeanischen Strömungen. Mit diesen gewaltigen Förderbändern der Meere ziehen etwa Karettschildkröten und Blauhaie gefühlt ewige Kreise durch den Atlantik. Von der Küste Floridas und Neuengland aus folgen die Tiere dem Golfstrom zum Mittelatlantischen Rücken und zu den europäischen Küsten, ehe sie südwärts mit dem kühlen Kanarenstrom bis zu den Kapverden ziehen und mit dem Südäquatorialstrom zurück in den Westatlantik gelangen. Überlebenswichtige Fixpunkte für solche Arten, die fast beständig wandern, sind Seeberge, welche sichere Rastplätze bieten und reiche Nahrungsgründe versprechen. Inmitten der durchschnittlich mehr als 3500 Meter tiefen Ozeane finden sich solche Erhebungen entlang von vulkanischen Nahtstellen und Verwerfungen der tektonischen Platten.

 

In Binnenmeeren kollabierten die Bestände von Hochseefischen bereits in den 1960ern

In Gewässern mit einer Mindest-Temperatur von 19 Grad und damit in allen Ozeanen mit Ausnahme des Atlantiks haben Steinkorallen als festsitzende Blumentiere Atolle geschaffen, die für Hochseewanderer wahre Oasen in der blauen Wüste darstellen. Die nur wenige Meter über dem Meeresspiegel liegenden Malediven etwa fußen auf einem Korallensockel, der über tausende von Jahren zu einem unterseeischen Himalaya herangewachsen ist und mit ausgedehnten Flachwasserzonen nicht mehr nur eine Oase im offenen Ozean bildet, sondern einen eigenen Kosmos mit Zonen vom Küstenbiotop bis zu Außenriffen als Tore zur Hochsee. Solche „Leuchttürme“ im offenen Meer vor den Folgen unkontrollierter Fischerei zu schützen, das wurde selbst in Hoheitsgewässern von EU-Staaten über Jahrzehnte versäumt, wie etwa am Vercelli-Seeberg auf halber Strecke zwischen Elba und Korsika oder auf den Skerki Banks zwischen Sizilien und Tunesien, die einmal überreiche Unterwasserparadiese waren. In Binnenmeeren wie dem Mittelmeer kollabierten die Bestände von Hochseefischen wie dem Blauflossen-Thunfisch bereits in den 1960ern, sodass die entsprechenden Steaks in Restaurants zwischen der Costa Brava und der türkischen Südküste bereits seit Jahrzehnten aus Aquakulturen oder dem Atlantik stammen. Dass auch die märchenhafte Fassade der „unerschöpflichen Ozeane“ tiefe Risse bekommen hat, ist nicht verwunderlich. Speziell die offenen Meere werden bereits seit etwa 60 Jahren in rekordverdächtiger Geschwindigkeit mit immer größerer industrieller Präzision geplündert und unkontrolliert verschmutzt, während die Wissenschaft angesichts des fortschreitenden Klimawandels unter Hochdruck Zusammenhänge entschlüsselt, die für nichts Geringeres entscheidend sind als das Überleben der Menschheit. Dazu zählt nicht nur der allseits bekannte Einfluss der ozeanischen Strömungen auf das Weltklima – ohne den Golfstrom würden etwa in Paris Temperaturen wie in Schottland herrschen –, sondern auch die Funktion des offenen Meeres als Kohlendioxidspeicher für unsere Emissionen und als Sauerstoffquelle. „Mit jedem zweiten Luftholen atmen wir ein, was die Ozeane produzieren“ – so bringt Greenpeace die Bedeutung der „blauen Lunge“ in einer Pressemitteilung auf den Punkt. Wohlgemerkt: in einer Pressemitteilung zum einmal mehr vergeblichen Vorstoß der Vereinten Nationen für ein internationales Abkommen zum Schutz der offenen Meere aus dem Jahr 2018. Allein ein Prozent der Hochsee genießen den Status eines Reservats. Die restlichen 99 Prozent gehören – ebenso wie Ressourcen wie Fisch und fossile Energiequellen – je nach juristischer Lesart allen und niemanden, oder unterliegen einfach dem Recht des Stärkeren.

Politische Dauerkonflikte wie im Südchinesischen Meer und das jüngste Säbelrasseln im östlichen Mittelmeer unterstreichen es überdeutlich: Wo die Ausschließliche Wirtschaftszone eines Landes endet, beginnt der Wilde Westen der Meere. Und die Leidtragenden dieser Outlaw-Verhältnisse sind, wie zu erwarten, ihre stummen Bewohner. Wenn Schleppnetze reiche Kaltwasserkorallenriffe und Schwammgründe in mehreren hundert Metern Tiefe planieren, um billigen Seelachs und Kabeljau für Hamburger und Fischstäbchen zu liefern, verschwinden kaum erforschte Tiefseeorganismen, die über ein ähnlich großes Potential für die Entwicklung synthetischer Medikamente etwa gegen Krebserkrankungen verfügen wie bestimmte Pflanzen im tropischen Regenwald. Ein Blick in die Online-Tagebücher der (nicht unumstrittenen) Meeresschutzorganisation „Oceana“, die seit Jahren auch Tauchroboter gestützte Tiefseeforschung an Hochseebergen rund um die Welt betreibt, vermittelt einen Eindruck davon, wie viele Geheimnisse es noch zu entdecken gibt.

Haie Azoren
Haie geraten auf ihren Wanderungen häufig in die Netze von Hochseefischern.

Bedrohte Fische werden mit Satelliten-Sendern markiert

Und selbst ein Blick in die obersten Wasserschichten wirft ein Jahrhundert nach dem Beginn der modernen Meeresforschung reichlich Fragen auf: Wie finden ausgesprochene Einzelgänger der Hochsee ihre Partner? Wo verbringen junge Meeresschildkröten ihre so genannten „verlorenen Jahre“? Wie genau funktioniert Schwarmverhalten? Oder: Was macht eigentlich ein knapp über ein Meter kleiner Hundshai, der vor der einzigen Hochseeinsel Deutschlands, Helgoland, markiert wurde, fünftausend Kilometer weiter südwestlich vor den Azoren? Hellhörig angesichts dieser Meldung wurde der Sauerländer Frank Wirth, dessen Geschäft und Leidenschaft die Bewohner des offenen Meeres sind. Seit 1998 bietet er von der Insel Pico aus Whale Watching-Ausfahrten, Tauchgänge an den umliegenden Hochseebergen und seit 2010 als erster Anbieter in Europa überhaupt Haitauchen an.

In einem Schulterschluss von Pico Sport mit Biologen des Ozeanografischen Instituts der Universität Lissabon auf den Azoren und der Stiftung „proWin pronature“ werden im Rahmen des 2020 gestarteten Projekts „Megalodon“ bedrohte Hochseebewohner wie Mobula-Rochen, Blau-, Mako- und Walhaie und Mondfische mit Satelliten-Sendern markiert, um ihre Wanderwege zu untersuchen. „Unsere Idee ist es, Datensätze zu sammeln und herauszufinden, welche Gebiete von den Tieren regelmäßig aufgesucht werden, um Politikern Argumente zu liefern, diese Plätze zu schützen“, erklärt Wirth. Der erfolgreiche Pilotversuch mit einem jungen Makohai im vergangenen Sommer zeigte bereits, dass trotz enormer Distanzen immer wieder bestimmte Gebiete auf dem Mittelatlantischen Rücken und an den Seebergen vor den Azoren angesteuert werden, was vermutlich über reinen Nahrungsopportunismus hinausgeht. Auch die Schwärme der Mobula-Rochen, die alljährlich im Sommer tausende Taucher auf den Hochsee-Archipel locken, welche ihrerseits mit ihrer Urlaubskasse die touristische Infrastruktur stützen, wandern in den kälteren Monaten in wärmere Gefilde. Ein gutes Argument, besonders produktive Hotspots im offenen Meer zu schützen. Das Beispiel von Marineparks an südostasiatischen Korallenriffen zeigt, dass schließlich auch angrenzende überfischte Gebiete von Schutzmaßnahmen profitieren – was auch lokalen Fischern nicht verborgen bleibt, denen industrielle Flotten ein Dorn im Auge sind. Die Crux: Forschung auf dem offenen Meer ist kostspielig und Satelliten-Sender umso mehr. Deshalb setzt Wirth auch auf Spenden von Ökotouristen, Medien und Reiseveranstaltern, die für die Mitfinanzierung von Sendern wiederum Gegenleistungen erhalten.

Jüngste Vorkommnisse wie die Fischerei fernöstlicher Flotten auf Hochseefische innerhalb der Hoheitsgewässer von Galapagos und Südafrika – mit ausgeschalteten Transpondern und bei Nacht –, legen nahe, dass der rigorose Schutz offener Gewässer innerhalb der Wirtschaftszone eines Landes heutzutage ebenso notwendig ist wie ein bindendes Abkommen für internationale Gewässer. Ein Spatz in der Hand ist besser als eine Taube auf dem Dach. Den Schlüssel für einen weltweiten Durchbruch könnten allein Allianzen schmieden: Würden kleine und große, nationale und internationale Schutzorganisationen sämtliche Kräfte in einem globalen Zusammenschluss bündeln, stünde die internationale Gemeinschaft zumindest theoretisch unter Zugzwang. Schließlich geht es gleichermaßen um Klima- und Artenschutz. Dass auch im unkontrollierbaren offenen Meer eine Wende möglich ist, wenn die Entscheidungsträger an einem Strang ziehen, zeigt der vielleicht größte Erfolg im Artenschutz überhaupt: Das Überleben der Großwale wurde schließlich nicht vor den Badestränden gesichert.