Wale
Die bedrohten Riesen
Obwohl spätestens seit Moby Dick, Flipper und Free Willy in aller Munde, birgt die vielfältige Gruppe aus sanften Giganten, wendigen Sprintern und faszinierenden Raubtieren noch jede Menge Geheimisse. Umweltverschmutzung, Klimaveränderung, Kollisionen mit Schiffen, Beifang in Fischernetzen, Unterwasserlärm und Jagd setzt ihnen derart zu, dass vermutlich viele Arten aussterben werden, noch bevor man mehr über sie erfahren hat.
Text: Wolfgang Pölzer
Graue Vielfalt
Die Ordnung der Wale (Cetacea) setzt sich aus knapp 90 verschiedenen Arten zusammen, die sich teils extrem stark voneinander unterscheiden. Grundsätzlich teilt man sie in Zahn- und Bartenwale. Während die Zahnwale ausnahmslos räuberisch leben und mit teils massiven Zähnen hauptsächlich Tintenfischen, Fischen, aber auch Robben und sogar anderen Walen nachstellen, ernähren sich Bartenwale von Plankton. Vertreter der Zahnwale sind Delfine, Orcas oder Schwertwale, die ebenfalls zur Familie der Delfine gezählt werden. Aber auch eine Hand voll Arten, die sich als sogenannte Flussdelfine an das Leben im Süßwasser großer, breiter und trüber Flüsse angepasst haben. Prominente Beispiele für Bartenwale sind der oft auch in Küstennähe zu beobachtende Buckelwal, der gigantische Blauwal oder der kleine, schlanke und pfeilschnell schwimmende Finnwal. Anstatt mit Zähnen sind deren Oberkiefer mit gefiederten Hornplatten ausgestattet, die als wirkungsvolle Planktonfilter dienen. Um satt zu werden, saugen sie hektoliterweise Wasser in ihr riesiges Maul, schließen es und pressen anschließend mit ihrer Zunge das Wasser durch die Barten wie durch ein Teesieb wieder hinaus. Zurück bleiben oft Unmengen von Planktonkrebschen und Leuchtgarnelen, die besser unter dem Namen Krill bekannt und Hauptnahrung vieler Wale sind.
Zurück ins Meer
Obwohl Wale perfekt ans Element Wasser angepasst sind, ist allseits bekannt, dass es keinen „Walfisch“ gibt. Wale gehören zu den Luft atmenden Säugetieren, ebenso wie wir Menschen. Sie haben sich vor rund 50 Millionen Jahren aus landlebenden Säugetieren entwickelt, die schrittweise ihren Weg zurück ins Wasser gefunden haben. Ein 49 Millionen Jahre altes Fossil erinnert entfernt an einen etwa drei Meter langen Seehund mit vier Beinen, langem Schwanz und Krokodil artigem Gebiss, der vermutlich amphibisch gelebt hat und als Übergangsform vom Land- zum Wasserlebewesen gilt.
Während sich diese Art noch hauptsächlich in sumpfigen Uferzonen und Brackwasser aufgehalten hat, erfolgte der Schritt zum reinen Meeresbewohner etwa 10 Millionen Jahre später. Die Hinterbeine mitsamt Becken sind stark verkümmert und die Vorderbeine haben sich zu massiven Flossen umgebildet. Die bis zu 20 Meter langen Fossilien besaßen vermutlich schon eine Ähnlichkeit mit unseren heutigen Zahnwalen. Im Laufe weiterer Millionen Jahre verschwanden die hinteren Gliedmaßen vollständig und kleine Reste der Beckenknochen dienen heute lediglich männlichen Walen als Muskelansatzstellen und helfen somit bei der Kopulation. Einige morphologische Gemeinsamkeiten aber vor allem genetische Untersuchungen belegen, dass heutige Flusspferde als die nächsten Verwandten der Wale angesehen werden können.
Weitgehend unbekannt
Die Populationsgrößen und der Gefährdungsstatus der meisten Walarten lassen sich bestenfalls schätzen. Genaue Zählungen sind bei wasserlebenden Tieren schwierig bis unmöglich. Nicht nur viele der 39 Delfinarten landen öfter als ungewollter Beifang in Fischernetzen oder werden tot ans Ufer gespült, als dass man sie lebendig im Meer sichtet. Noch weniger weiß man über die Schnabelwale, die mit 23 Arten nach den Delfinen die zweitgrößte Walfamilie darstellen. Obwohl mit 4 bis 13 Meter Länge nicht gerade winzig, wurden einige Arten davon erst in den letzten Jahrzehnten entdeckt. Hauptgrund ist das küstenferne Vorkommen auf hoher See, da sie sich vorwiegend von Tiefseekalmaren ernähren. Sie werden durch Erzeugen von Unterdruck mit Hilfe des kräftigen Zungenbeins der Schnabelwale blitzschnell eingesaugt. Deswegen besitzen die meisten Arten lediglich 2 oder 4 Zähne im Unterkiefer, die ausschließlich für Rangkämpfe eingesetzt werden, wie man aus zahlreichen Narben, vor allem bei Männchen schließt.
Weltrekorde
Wale sind für viele Höchstleistungen bekannt. Bislang galt etwa der bis über 20 Meter lange und 50 Tonnen schwere Pottwal – das größte lebende Raubtier – als Tauchweltmeister. Um seiner Lieblingsbeute, den Riesenkalmaren in der Tiefsee nachzustellen, taucht er regelmäßig bis zu 90 Minuten lang in eine Tiefe von über 2500 Meter. Seinen – wissenschaftlich belegten – Meister hat er kürzlich in einem Cuvier-Schnabelwal gefunden. Das mit einem Sender markierte 7 Meter lange Tier tauchte 3 Stunden und 42 Minuten bei einer Maximaltiefe von knapp 3000 Meter – absoluter Rekord unter allen wasserlebenden Säugetieren. Langzeitstudien haben ergeben, dass die durchschnittliche Tauchzeit dieser Walart eine gute Stunde beträgt und dabei im Schnitt 1400 Meter Tiefe erreicht werden. Möglich ist das nur, weil die Wale den benötigten Sauerstoff im Myoglobin direkt in ihren Muskeln speichern können.
Dem Pottwal bleibt mit bis zu 9,5 Kilogramm das schwerste Gehirn und der im Verhältnis größte Kopf im gesamten Tierreich. Auch der Blauwal hält Rekorde: Mit einer verbürgten Länge von über 33 Meter bei bis zu 200 Tonnen Gewicht, gilt er als das schwerste jemals lebende Tier der Welt. Selbst wenn ein Exemplar der größten Dinosaurier (Sauropoden) eventuell einen halben Meter länger gewesen sein sollte, hätte er maximal um die 100 Tonnen auf die Wage gebracht – gerade mal die Hälfte eines Blauwals. Neben seinem bis zu 1000 Kilogramm schweren Herz beeindruckt der Blauwal vor allem auch mit seinen lautstarken Gesängen, die mit bis zu 170 Dezibel einen Düsenjet übertönen könnten. Die mit Abstand schönsten, längsten und vielfältigsten Walgesänge sind zwar von den deutlich kleineren Buckelwalen bekannt, die größte Reichweite mit mehreren hundert Kilometer erreichen jedoch die Blauwale. Forscher vermuten, dass die Walgesänge der fünf singenden Arten – Buckel-, Blau-, Finn-, Grönland- und Minkwal – sogar noch wesentlich weiter reichen könnten. In sogenannten Sprungschichten, wo sich innerhalb weniger Meter Wassertiefe, Temperatur und Salzgehalt (Dichte) stark ändern, könnte sich der Schall nahezu ungehindert ausbreiten. Mehrere solcher stabilen Wasserschichten befinden sich etwa zwischen 600 und 1200 Meter Tiefe, sie könnten den Walen quasi als Telefonkanal dienen. Gegen diese Theorie spricht jedoch, dass von den fünf singenden Walarten nur der Blauwal bis in solche Tiefen vordringt. Obwohl lange vermutet wurde, dass die größten Blauwale auch die langlebigste Walart sind, wissen wir heute, dass der ausschließlich in arktischen Gewässern vorkommende Grönlandwal mit bis zu über 200 Jahren noch deutlich älter werden kann.
Gärtner der Ozeane
Die große Bedeutung der Wale für das gesamte Ökosystem – und damit auch für uns – ist Forschern erst vor wenigen Jahren bewusst geworden. Die Hochsee, der Lebensraum der meisten Walarten, ist grundsätzlich nährstoffarm. Vor allem Stickstoff und Eisen sind die limitierenden Ressourcen, die das Wachstum von Planktonalgen begrenzen. Als Primärproduzenten und damit Basis für die gesamte Nahrungskette bilden sie den Grundstock für jegliches höhere Leben im Meer. Als Wanderer zwischen den Wasserschichten bewirken die Wale bei ihren vielen Tauchgängen schon alleine durch ihre Masse eine gewisse Durchmischung des Wassers. Am wichtigsten aber ist der Nährstoffeintrag ihrer Ausscheidungen, die fast ausnahmslos nahe der Oberfläche abgegeben werden. Wal-Kot enthält genau die für Planktonalgen so wertvollen Inhaltsstoffe wie Stickstoff und Eisen – bester Planktondünger also. Indem Wale in großen, oft lichtlosen Tiefen Nahrung aufnehmen, diese verstoffwechseln und ihre Ausscheidungen in den oberen 200 Meter der Wassersäule abgeben, dienen sie quasi als Gärtner der Ozeane. Zusätzlicher Effekt: Durch das Wachstum der Planktonalgen wird CO2 aus der Atmosphäre entfernt und damit die Erderwärmung verringert. Wissenschaftler bezeichnen diesen Nährstoffkreislauf als „Walpumpe“.
Wie groß die Bedeutung der Wale für den Ozean darüber hinaus ist, kann man im Südpolarmeer beobachten. Während sich vor der Zeit der Walfänger rund um die Antarktis gigantische Mengen von Blauwalen getummelt haben, konnten sich deren Bestände nach der hemmungslosen Jagd deren Bestände bis heute kaum davon erholen. Zeitversetzt zu den abgeschossenen Walen sind auch die Krill-Bestände massiv eingebrochen. Die kaum fingerlangen Planktonkrebse dienen aber nicht nur als Futter für die Bartenwale, sie sind auch die Nahrungsgrundlage für nahezu alle dortigen Fischarten und selbst für Vogel- und Robbenarten dar. Sie sind somit als nächste Stufe der Nahrungskette unverzichtbar für alle weiteren Tierarten. Kurzum: weniger Wale – weniger Eisen (Dünger) – weniger Planktonalgen – weniger Krill – weniger Leben. Das gesamte Ökosystem ist geschwächt.
Von allen Seiten bedroht
Auch wenn Wale über eine extrem dicke Haut verfügen, man möchte nicht in ihrer Haut stecken. Die Zeiten der Waljagd sind glücklicherweise Geschichte. Nur wenige unbelehrbare Länder wie Japan und Dänemark sehen das noch nicht so. Island hat umgedacht und von Walfang auf Whalewatching umgeschwenkt. Die derzeit schlimmste Walfangnation ist Dänemark mit blutigen Walmassakern auf den Färöer-Inseln, Japan steht ihnen mit seinen Delfinschlachtungen in der Bucht von Taiji aber kaum nach. Neben der gezielten Tötung von Walen, verenden unzählige Tiere als Beifang in riesigen Fischernetzen, sterben qualvoll in sogenannten Geisternetzen, die in großer Zahl durch alle Weltmeere treiben oder kommen bei Kollisionen mit großen Schiffen ums Leben.
Weitere Wale sterben an verschlucktem Plastikmüll, durch Ölkatastrophen oder werden nach wie vor für die längst nicht mehr zeitgemäßen Delfinarien gefangen. Wesentlich subtiler und wissenschaftlich bewiesen sind die Auswirkungen durch Lärmbelastung. Immer mehr, immer größere und immer lautere Schiffe schrauben sich durch unsere Meere und erhöhen die ständige Lärmbelastung unter Wasser. Das stört nicht nur die Gesänge der Bartenwale, sondern beeinflusst vor allem das Ortungssystem der Zahnwale, das ähnlich wie das Sonarsystem der Fledermäuse funktioniert. Nur damit können sie sich im trüben Wasser oder in lichtlosen Tiefen zurecht finden, Beute machen und vor Feinden ausweichen. Schallkanonen zum Aufspüren von Öl- und Gasreserven unter dem Meeresgrund sowie militärische Sonarwellen sind definitiv unerträglich für Wale und führen nicht selten zu Walstrandungen.
Da Zahnwale ganz oben am Ende der Nahrungskette stehen und Bartenwale Unmengen von Plankton vertilgen, reichern sich in ihnen unsichtbare Schadstoffe wie Schwermetalle, Chemikalien an. Hinzu kommen durch Flüsse eingeschwemmte Insektizide, Phosphate, Nitrate aber auch Mikroplastik. Einzig positiv daran ist die sinkende Nachfrage nach Walfleisch, selbst in Japan. Die hohe Schadstoffkonzentration in Walkörpern führt zu vermehrtem Auftreten von Krebsgeschwüren – etwa bei Belugawalen – vermindert die Fruchtbarkeit und verringert die Lebenserwartung. Da vor allem die großen Walarten frühestens im Alter von 10 Jahren geschlechtsreif werden, die Tragezeit bis zu 15 Monate (Pottwal) beträgt und die hohe Schadstoffbelastung mit der Muttermilch auf die Jungen übergeht, ist das Ausmaß dieser Problematik noch gar nicht abschätzbar. Erhalt und Rettung der Wale kann nur durch globales Umdenken erreicht werden, durch massive Schadstoff-, Lärm- und Plastikreduzierung sowie durch Schaffung von (echten) Schutzgebieten die mindestens 30 Prozent der Weltmeere umfassen. Wissenschaftler vieler Länder fordern das schon lange. Hoffentlich halten die Wale so lange durch. Wenn nicht, dann wird es auch für die Menschheit eng.