Thunfische
Jagdbomber der Meere
Sie sind Hochseebewohner, die im Schwarmverband über tausende Kilometer die Ozeane durchqueren. Echte Muskelpakete, die die beachtliche Fähigkeit haben, ihre Körpertemperatur über der des Wassers zu halten. Und als Speisefische sind sie so begehrt, dass eine einfache Google-Suche noch auf der Startseite ihren durchschnittlichen Nährwert liefert. Ganz egal, ob gegrillt, gebraten, als Sushi, Sashimi, Tatar oder als Konserve: Thunfische werden für ihr festes Fleisch rund um den Globus so geschätzt, dass sie beinahe die Hälfte der Biomasse aller weltweit gefangenen Seefische ausmachen.
Text: Daniel Brinckmann
Fangmenge steigt gewaltig
Nach Schätzungen der FAO vervierfachte sich die weltweite Fangmenge von etwa 400.000 Tonnen im Jahr 1955 innerhalb von vierzig Jahren – 1997 fing man erstmals über zwei Millionen Tonnen Thunfisch. Ein Pegelstand, der seitdem mit geringen Schwankungen gehalten wird. Kaum verwunderlich, dass die sportlichen Raubfische die traurige Statistik jener Arten anführen, deren Bestand in den letzten siebzig Jahren auf ein Zehntel der ursprünglichen Größe geschrumpft ist. Würden die wenigen verbliebenen Weibchen nicht Millionen von Larven in den Laichgebieten vor den Küsten Afrikas, Mexikos und des Mittelmeeres freisetzen, die rastlosen Raubfische wären vermutlich längst ausgestorben. Weil sie vielen Menschen einfach zu gut schmecken. Entsprechend datierten Archäologen die ersten Kammernetz-Systeme der Fischerei aus Nordafrika auf mehr als 2000 Jahre zurück. Und schon im 18. Jahrhundert brachten Händler aus Tirol nicht nur Zitronen, sondern auch eingesalzenen Thunfisch aus Italien über die Alpen nach Mitteleuropa.
Eleganter Raubfisch
Dem durchschnittlichen Konsumenten, der im Supermarkt zum Gewohnheitslebensmittel in der Konservendose greift und vorab bestenfalls noch sein Gewissen mit dem Blick auf das Werbesiegel „Delfin-sicher gefangen“ erleichtert, kennt den Thunfisch nur vom Etikett. Als eleganten aber unscheinbaren silbernen Fisch mit weit gespreizten Flossen, der vom Sympathiefaktor eines „Nemo“ so weit entfernt ist, wie Nachhaltigkeitsmedaillen vom Meeresschutz. Würde er die bis über eine halbe Tonne schweren und bis zu vier Meter langen schwimmenden Thunfische nur einmal in ihrem Element erleben, der Griff ins Einkaufsregal würde vermutlich zögerlicher ausfallen. Wer einmal inmitten eines Thunfisch-Schwarms geschnorchelt oder getaucht ist, vergisst den Anblick nie. Inmitten einer lebendigen Wand aus riesenhaften, metallisch schimmernden Körpern mit faustgroßen Augen zu schwimmen, erinnert an einen Logenplatz im Auge eines Tornados; ein synchrones Ballett, in dem jeder einzelne Fisch so viel stärker ist als ein Mensch und mit einem einzigen Flossenschlag das Wasser spürbar beeinflussen kann.
Hai und Mensch sind Feinde des Thunfisches
Das archaisch anmutende Schauspiel, welches sich seit Urzeiten in jedem Ozean abspielt, ist selten geworden. Noch bis zum Ende der Nachkriegszeit waren Thunfische sogar vor der deutschen und dänischen Nordseeküste heimisch, sie drangen gelegentlich bis in die westliche Ostsee vor. Die rasch zunehmende Meeresverschmutzung und einige wenige Rekordfangjahre der industriellen Fischerei löschten das Vorkommen noch in den 1960er-Jahren praktisch aus. Keine zwei Jahrzehnte später kollabierten auch die ersten Bestände in den Binnenmeeren, allen voran im Mittelmeer. Während die letzten kommerziell betriebenen Thunfischfallen vor Sardinien trotz beständig schwindender Schwärme und immer kleinerer Tiere noch bis in die frühen 2000er-Jahre als folkloristische Touristenattraktion am Leben erhalten wurden, galt die Massenwanderung der Thunfische in die fjordartigen Buchten der nördlichen Adria bei Triest im Jahr 1954 als letzter große Fischzug, der Fischer aus verschiedenen Gemeinden in rekordverdächtiger Geschwindigkeit in die Boote trieb. Die wenigen Foto- und Filmdokumente aus dieser Zeit muten wie Relikte aus einer längst vergessenen Zeit an. Damals, als „Touristen“ noch eine neue Erscheinung waren, die an Seebädern wie Opatija mit Hainetzen geschützt wurden. Der Hai ist neben dem Menschen der größte Feind der Thunfische.
Meistbegehrt: Blauflossen-Thunfisch
Wenn von „dem“ Thunfisch die Rede ist, ist hierzulande üblicherweise der Blauflossen- oder der Rote Thunfisch gemeint. Ersterer ist ein Gigant des gemäßigten Atlantiks, dessen Verbreitungsgebiet von Kanada und Mexiko im Westen, bis Norwegen und Westafrika im Osten und sogar bis in tropische Gewässer reicht. Zum Ablaichen zieht ein Teil der Population ins Mittelmeer, der andere in den Golf von Mexiko. In subtropischen Meeresregionen mit Temperaturen über 21 Grad überschneidet sich das Vorkommen dieser größten und begehrtesten Art, die als stark gefährdet gilt, mit dem zweitgrößten Vertreter der Familie, dem Gelbflossen-Thuna (potentiell gefährdet), dem Albacore (Weißer Thunfisch, potentiell gefährdet) und dem Großaugen-Thuna. Dieser steht aktuell kurz davor, von der „Internationalen Kommission für die Erhaltung des Atlantischen Thunfisches“ (ICCAT) als stark gefährdet klassifiziert zu werden. Abgesehen von diesen Arten und dem weltweit noch verhältnismäßig häufig vorkommenden kleineren Bonito („Skipjack“), sind die restlichen fünf Spezies – gemessen an ihrer wirtschaftlichen Relevanz – kaum erforscht. Teilweise auch, weil die Industrie einmal mehr die Wissenschaft überholt hat und diese etwas kleinwüchsigeren Arten der (mehrheitlich) tropischen Meere eben schon zu selten geworden sind. Der Bonito gilt als nächster Verwandter der „echten Thunfische“ und endet in entsprechenden Stückzahlen in der Konservendose.
Kampf zwischen Ökonomie und Ökologie
Egal, um welche Art es sich handelt: Zum Verhängnis wurde den Thunfischen ihre schiere Sichtbarkeit. Wenn Schwärme der silbernen Riesen in seichtem Wasser vorbeiziehen, sind sie von exponierten Kaps aus auch ohne Fernglas leicht zu sehen – wenn sie jagen, brodelt die Meeresoberfläche. Entsprechend früh wurde ihnen nachgestellt. Bereits die Phönizier entwickelten ein reusenartiges System von Netzkammern, um die Thunas bei ihrem Laichzug ins Mittelmeer hinter der Straße von Gibraltar abzupassen. Unglaubliche zweitausend Jahre hat die Fangmethode überlebt, bei der die Tiere während ihrer Wanderung ins Mittelmeer im Mai und Juni an Engpässen ihrer Wanderrouten entlang von Netzwänden in die „Todeskammer“ gelockt werden, die am Ende der Saison, wenn keine Fische mehr eintreffen, für das blutige letzte Kapitel aufs Kommando vom Mestre an die Oberfläche gezogen wird. Mit der Jahrtausendwende wurden diese Almadrabas (Spanien) und Mattanzas (Italien) zunehmend abgelöst von mehreren hundert Thunfisch-Mastbetrieben zwischen den Küsten Andalusiens und Zypern. Der Ansatz macht aus ökonomischer Perspektive Sinn: Werden weniger Tiere gefangen, müssen diese effizienter genutzt werden.
Schließlich konnte der beinahe vollständige Kollaps des mediterranen Blauflossen-Thuns vor rund zehn Jahren nur mit rigoros gesenkten Fangquoten und strengen Kontrollen in letzter Minute abgewendet werden. Seitdem überwachen EU-Fischereibeobachter jeden Trawler und jede Farm auf Einhaltung der Quote und sorgen für empfindliche Strafen sobald die angegebene Zahl der gefangenen Fische um einen zweistelligen Prozentsatz überschritten wird. Sowohl Kontrolleure der Fischerei, als auch Fischereigenossenschaften kennen Gesetze und Gesetzeslücken genau. Entsprechend wird der Kampf zwischen Ökonomie und Ökologie täglich auf See ausgefochten.
Und so arbeiten gerade die Mastbetriebe ganz legal mit wild gefangenen jungen Thunas, die als Lebendtiere in keiner Statistik auftauchen und über Zwischenhändler ab einer variierenden Mindestgröße teuer verkauft werden. Vor allem der mediterrane Thunfisch – von dem rund neunzig Prozent nach Japan exportiert werden – gilt als hochwertig. Auf Feinschmecker-Großmärkten wie in Tokio erzielen Tiere, die als Jungfisch wild gefangen und zu fettreichen Kolossen gemästet werden, astronomische Preise in Millionenhöhe. Im Westpazifik, dem südlichen Indischen Ozean und überall dort, wo die Schwärme noch dicht genug sind, um die Betriebs- und Unterhaltskosten von Trawler-Flotten zu rechtfertigen, werden die Thunas mit Treib- und Ringwaden-Netzen gefangen. Andere Fische, Meeressäuger und sogar Reptilien, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind oder einfach ihrer natürlichen Beute nachstellen – allen voran Mantas, Haie, Schwertfisch-artige und Schildkröten – werden als „Beifang“ in einer Größenordnung erbeutet, dass das Überleben einiger Arten allein durch diese Methode des Thunfisch-Fangs auf des Gourmet-Messers Schneide steht. Denn solange die vernichtenden Praktiken in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen, oder dem kleinen Preis zuliebe ausgeblendet werden, werden die Bestände geplündert, bis die Größe von Wildfängen an Doraden erinnert und Zuchttiere Luxusgut werden. Selbst die Bio-Rubriken von Sterne-Köchen und selbst ernannten Soulfood-Ikonen beschreiben mehrheitlich nur, welchen Errungenschaften der Evolution der Thunfisch sein festes tiefrotes Fleisch verdankt. Über den Bedrohungsstatus und die Notwendigkeit zum Maßhalten wird hingegen kein Wort verloren wird.
Ganz gewiss auch nicht über die heutzutage enorme Belastung des Fleisches mit Schwermetallen wie Quecksilber, mit Mikroplastik und weiteren Giftstoffen, speziell in Thunfisch-Konserven. Die gesundheitsfördernde Wirkung von Fischöl, Proteinen und Omega-3-Fettsäuren mag noch so hervorgehoben werden – die realistische Gleichung lautet heute: je höher die Position in der Nahrungskette, desto gesundheitsschädlicher der Fisch. Wer das edle Filet eines großen Thunfisches mit Vorfreude auf dem Teller betrachtet, sollte zumindest wissen, dass das zarte Fleisch gespickt ist mit dem Mikroplastik und den Schadstoffen, welche das Tier zu Lebzeiten als Larve, Jungfisch und später durch Beutetiere wie Sardinen und Makrelen und wiederum deren Beute aufgenommen hat. Der Mensch erntet eben, was er säht…