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Foto: Tobias Friedrich www.BELOW-SURFACE.com

Tauchen mit Orcas im norwegischen Polarmeer

Der Orca-Flüsterer

Vor der Nordlichtmetropole Tromsø in Norwegen können mutige Schnorchler mit Orcas schwimmen. Wer der Kälte trotzt, wir durch einzigartige Begegnungen belohnt. Denn einer weiß genau, wo man die Pandas der Meere am besten trifft.  

Text: Timo Dersch

Plötzlich hört er ein fiependes Geräusch. Dann klackert es. Und wieder ein Fiepen.  Diesmal ganz nah. Fast klingt es wie ein Meerschweinchen. So etwas hat Pierre unter Wasser noch nie gehört. Er dreht sich und erblickt unmittelbar vor sich einen gefleckten Riesen, der ihm in die Augen schaut. Ein Schwertwal,  Orcinus orca,  im Volksmund nur Orca genannt, schwebt regungslos vor ihm. Der Riesendelfin mit den Panda-Augen ist für einen Moment lang wie erstarrt. Dann beäugen sich die beiden neugierig. Wie Kinder, die zum ersten Mal einen Menschen mit anderer Hautfarbe sehen. Vorsichtig. Interessiert. Respektvoll. Aber ganz ohne Angst. Das Tier mit der typischen Rückenflosse scheint dem seltsamen Besucher zuzunicken, umkreist ihn, mustert ihn und verschwindet dann langsam im grünlich trüben Wasser des Fjords.

 

Foto: Wolfgang Pölzer

Zwanzig Jahre ist diese Begegnung her. Pierre Robert de Latour war damals zum ersten Mal nach Norwegen gereist, um an der Weltmeisterschaft im Speerfischen teilzunehmen. Der Franzose hatte sich in Orcas verliebt, als hätte er seine Bestimmung gefunden. »Ich wollte immer wiederkommen und mehr über diese faszinierenden Meerestiere herausfinden.« Ursprünglich stammt der Zweimeterhüne aus Südfrankreich. Aus Mont-de-Marsan, einem 30 000-Seelen-Städtchen zwischen Bordeaux und der spanischen Grenze. Seit Pierre denken kann, verbrachte er seine Zeit im Meer. Das Harpunenfischen hat in Südfrankreich Tradition.
Nach und nach wurde der lange Pierre einer der Besten, sodass die Köche ihn gern als Gast in den Restaurants sahen. Fisch gegen komplette Mahlzeit – das klassische Tauschgeschäft der Speerfischer. Je länger der Harpunier seinen Atem anhalten konnte, um über den felsigen Meeresboden zu gleiten, desto größer waren die Fische, die er am Abend für den Grill mitbrachte. Pierre lernte während seiner ersten Norwegen-Reise Olav Stromsholm kennen. Der norwegische Kapitän mit dem Bilderbuchschnauzbart hat die Meerespandas mindestens genauso gern wie er. Außerdem hat Olav ein Boot. Die MS »Sula«, ein ehemaliger Fischerkahn, 27 Meter lang, Platz für zwölf Gäste plus Besatzung. Pierre und Olav beschlossen, Fahrten
für Touristen zu organisieren, die den hochintelligenten Orcas möglichst nahe kommen wollen. Seither streift die »Sula«, wie auch ihr Namensvetter, der Meeresvogel mit dem schwarz-weißen Gefieder, über das norwegische Meer, immer auf der Suche nach Hering.

»Die kleinen Leckerbissen sind der Schlüssel zum Erfolg«, sagt Pierre, heute 62 Jahre alt. Jeden Winter verbringt er vier Monate in Nordnorwegen, den Rest des Jahres arbeitet er für das Umweltministerium in seiner Heimatstadt. Außerdem hat er die Organisation USEA (Undersea Soft Encounter Alliance) gegründet, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, für eine friedliche, naturnahe Interaktion zwischen Orcas und Mensch zu sorgen. »Nur wer den Heringsschwärmen folgt, der findet auch die Orcas.« Denn in den Wintermonaten, wenn die Sonne nicht mehr aufgeht, wenn es nur noch drei Stunden am Tag Dämmerlicht gibt und nach frischem Schnee riecht, dann schwimmen die Heringsschwärme vom offenen Meer in die Fjorde zum Laichen. Ihnen dicht auf der Spur folgen die Orcas, seit drei Jahren sogar bis vor die Ufer der Hafenstadt Tromsø.
Das gefällt Pierre und Olav gut, denn dadurch wird das Orca-Abenteuer wie auf dem Silbertablett serviert. Früher mussten sie ihre Wal-Kundschaft umständlich zum Schiff bringen lassen, dann weit bis aufs Meer hinausfahren und häufig tagelang im offenen Wasser nach Orcas suchen. Gab es mal nichts zu sehen, war die Enttäuschung groß. »InTromsø wissen wir recht zuverlässig, dass die Tiere da sind«, sagt Olav.

 

Foto: Tobias Friedrich www.BELOW-SURFACE.com

Die ersten Rückenflossen hat Pierre heute schon durch sein Fernglas gesichtet. Mit einem Aluminiumbeiboot steuert er ihnen entgegen, an Bord seine zahlenden Gäste. »Masks on, snorkel in your mouth!«, ruft der Franzose. Die Schnorchler sitzen auf kleinen Plastikkisten, allen Mut zusammennehmend. Die Füße mit den Taucherflossen baumeln über der Reling. »One, two, three, and go!« Vorsichtig gleiten die Taucher in das vier Grad kalte Wasser, um die Orca-Familie nicht zu vertreiben, die geradewegs auf das kleine Beiboot zusteuert. Unter den Trockentauchanzügen tragen sie wärmende Funktionskleidung. Eigentlich unvorstellbar, hier in einem Neoprenanzug schwimmen zu müssen, in den das kalte Wasser hineinläuft. Doch Pierre scheint die Kälte wenig zu stören. Der erfahrene Guide schwimmt »nass« und ist dadurch schneller und beweglicher. Wie Korken treiben die Neulinge an der Wasseroberfläche, bis sie Herr über das eingeschlossene Luftvolumen im Anzug werden und in Richtung der Rückenflossen strampeln. Die Schnorchler bewegen sich parallel zur Orca-Familie. Das hatte Pierre ihnen eingebläut: »Wenn ihr direkt auf die Tiere zu schwimmt, sind sie weg.
No chance. Gebt ihnen Zeit, neugierig zu werden!«

 

Tobias Friedrich www.BELOW-SURFACE.com

Grün und trübe ist das Meer. Nur wer den Kopf aus dem Wasser streckt, kann erkennen, ob seine Schwimm-richtung mit den immer wieder die Wasseroberfläche durchbrechenden Rückenflossen übereinstimmt. Der Pod, wie man ein Orca-Rudel nennt, schwimmt in Sichtweite. Es sind ungefähr fünfzehn Tiere. Vor lauter Aufregung kann niemand so genau zählen. Anmutig gleiten sie vorüber. Wie Zugvögel in Flugformation. Grazil und elegant, und das trotz eines Gewichts von bis zu sechseinhalb Tonnen sowie einer plump wirkenden Körperform. Die charakteristische Zeichnung ist auch im trüben Wasser gut zu erkennen. Pechschwarze Körper mit schneeweißen Bäuchen. Der elliptische, weiße Fleck über den Augen, der schwungvoll gezeichnete weiße Fleck auf der Seite. Das graue Muster am Rücken, durch den sich einzelne Tiere voneinander unterscheiden lassen. Während die Taucher über das künstlerische Werk der Natur staunen, scheint die reisende Schwertwal-Familie sich so gar nicht um die Besucher zu kümmern.

 

Tobias Friedrich www.BELOW-SURFACE.com

Doch dann passiert, worauf alle gehofft haben: Ein Tier löst sich von der Gruppe. Ein junges Männchen. Ein Späher. Er ist groß, vielleicht neun Meter. Unter Wasser lässt sich das schwer schätzen. Er steuert auf die Taucher zu. Wahrscheinlich als Kundschafter, um Gefahren einzuschätzen. Angst braucht niemand zu haben. In ihrem natürlichen Lebensraum greifen Orcas keine Menschen an. Pierre holt einmal tief Luft und taucht ab. Der Bleigürtel um seine Hüften hilft gegen den Auftrieb des Schaumgummimaterials seines Anzugs. Der Bulle schwimmt in drei, vier Meter Tiefe zwischen seinen Artgenossen und den unerwarteten Besuchern.
Pierre überholt ihn. Das lässt sich der junge Orca nicht gefallen. Ein kräftiger Schlag mit der Schwanzflosse, und er hat seinen Vorsprung zurückerobert. Er wird etwas langsamer, lässt Pierre wieder überholen, nur um sich wie bei einem spielerischen Tanz die Spitze sofort wieder zurückzuerobern. Zum Abschied dreht sich der verspielte Orca noch einmal um die eigene Achse, um danach schnell zu seinem Rudel aufzuschließen.
»Das ist der beste Tag auf dem Meer, den ich je erlebt habe«, stammelt eine Teilnehmerin, als sie zurück ist auf dem Beiboot. Das größte Raubtier der Welt in seiner natürlichen Umgebung zu erleben, ist vor allem ein emotional beeindruckendes Erlebnis. Alle fallen sich vor Freude in die Arme, ergriffen von den Tieren, der Natur, dem Erlebnis unter Wasser. Pierre erhält kraftvolle Klopfer auf die Schultern. Die Begegnungen mit »seinen Leuten«, wie er die Lieblingstiere nennt, sind auch für ihn selbst nach Tausenden Tauchgängen immer wieder ein Abenteuer. Später, beim Abendessen im Aufenthaltsraum der »Sula«, erzählt Pierre von einer Orca-Mutter, die ihr Kalb stillte. »Sie schaute mich an, sie spürte meine Präsenz und ließ mich doch zuschauen.
Ich war total fertig. Überwältigt durch die Emotionen. Es war ein so toller, intimer Moment, dass ich begann, unter meiner Maske im Wasser vor Rührung zu weinen.« Ein anderes Mal kam ein großes Männchen mit einem Hering im Maul auf ihn zu geschwommen und präsentierte stolz seinen Fang.

 

Foto: Wolfgang Pölzer

Pierre ist davon überzeugt, dass Orcas in der Lage sind, Gemütszustände zu transferieren,für einen Moment Kontrolle über menschliche Emotionen zu übernehmen. »Nur so kann ich mir die Gefühlsausbrüche erklären, die ich und andere bei den Begegnungen haben. Ich bin glücklich, fühle mich frei, wie gereinigt.«Ungläubige Zuhörer, und doch scheint er irgendwie recht zu haben. Sie selbst waren ja gerade Zeuge im trüben Wasser des Polarmeers. Die zufriedenen Augen der tapferen Schnorchler werden immer müder. Einer nach dem anderen verabschiedet sich in die schaukelnde Koje. Es wird ruhig. Die Rufe der Möwen verstummen. Noch ein letzter Rundgang an Deck, bevor auch Pierre die wärmenden Daunen aufsucht. Es ist eine sternenklare Nacht geworden. Pierre schließt die Knöpfe des Wollpullovers. Das Lichtspiel der Aurora borealis beginnt.
Die Show der Polarlichter. Grüne Streifen tanzen am Himmel wie Neonlichter in Diskotheken. Das i-Tüpfelchen des Naturschauspiels, das hier 350 Kilometer nördlich des Polarkreises jeden Tag stattfindet. Mal sehen, ob auch die Könige der Meere morgen wieder Lust auf ein Rendezvous haben.

 

Tobias Friedrich www.BELOW-Surface.com

Tauchen mit Orcas im norwegischen Polarmeer

  • Beste Reisezeit: Mitte November bis Anfang Februar.
  • Anreise: Flug über Oslo nach Tromsø mit Norwegian Airlines oder SAS.
    Direktflug nach Tromsø von Frankfurt mit Lufthansa.
  • Wohnen: Auf dem Schiff MS »Sula« oder MS »Malmö« in einer Doppelkabine mit Stockbett.
    Badezimmer werden geteilt. Es gibt Vollpension auf dem Schiff mit hervorragender Küche.
    Das Schiff legt jeden Abend wieder im Hafen an.
  • Schnorcheln: Das Wasser ist mit vier bis fünf Grad sehr kalt. Trockentauchanzüge
    gibt es an Bord zu leihen. Wer im Nasstauchanzug schnorcheln will, muss diesen selbst
    mitbringen. Windfeste Polarjacken für die Zeit des Whalewatching an Deck sind zu empfehlen.
    Ein Tauchschein wird nicht vorausgesetzt.
  • Buchen: Wirodive, sieben Tage ab 3380 Euro. wirodive.de. Oder direkt bei Olav Stromsholm

Fotos: Tobias Friedrich www.BELOW-SURFACE.com, Orca Norway

Pierre Robert de Latour ist international anerkannter Orca-Experte. Seit 20 Jahren taucht der Franzose mit Schwertwalen und studiert die Interaktion zwischen Mensch und Orcas.