follow us on

Foto: Aleksandr Sushkov / unsplash.com

Haiforschung – The Waterman Projekt

Rendevous im Pazifik

Vor der Isla Guadelupe schwimmen Forscher hautnah mit Weißen Haien. Im offenen Meer, ohne Käfig, für einen gute Zweck. Sie schießen dem riesigen Räuber Sender in die Flanken, um sein Überleben zu sichern.  

Text: Lukas Müller

Die Haie sind heute wohl ein wenig schüchtern. Keiner lässt sich blicken. Keine Flosse weit und breit. Wo sind sie. Ismahel sitzt am Motor, knackt die Schuppen eines Yellowtails auf. Reißt fettes, feuchtes Fleisch heraus und wirft es ins Meer. Blut tropft über die Planken, man kann die Langeweile plätschern hören. Es ist heiß und windstill, über uns kreischen die Vögel. Doch nirgendwo ein Dreieck, das durch den Horizont schneidet. Der Diesel tuckert, die Sonne steht hoch und brennt auf unsere Schädel. Fred greift zum Hut, um seine Glatze zu schützen. „Die Haie sind tief“, sagt Ismael. Weit unten, wo sich kaltes und warmes Wasser in den Sprungschichten mischen. Dort halten sich Haie am liebsten auf. Letztes Jahr kamen die Strömungen von El Nino hinzu, sie haben die Grenze nach unten verschoben.

Fred guckt grimmig, erschöpft, das Warten macht uns alle müde. Weit draußen eine Herde seltener Schnabelwale. Sie spielen sanft mit dem Ozean, blasen Luft aus ihrem Atemloch. Aber wir sehen kaum rüber zu ihnen. Es wird Zeit, wir wollen zurück auf die Insel. Ein kühler Drink, Füße im Sand. Die Sonne in die Nacht schicken. Doch plötzlich gleitet dieser riesige Schatten heran, schleicht bis dicht an unseren Rumpf. Wartet, taucht ab, huscht unter dem Boot durch. Schweigen, nur das Holz knarrt. Ich kann mein Glück mit Händen greifen. Das Boot schaukelt, erst schwach, dann stärker. Wir spüren, wie das große Tier unter uns Wasser verdrängt. Ein Weißer Hai. Zwei Tonnen Fisch, fast sechs Meter lang. Mauricio springt auf, schlägt das Paddel auf die Wellen. „Sharky, sharky, sharky!“, ruft er, seine Stimme überschlägt sich. Wir zwängen uns in die Anzüge, stülpen Flossen, Masken und Schnorchel über. Keiner von uns benutzt eine Pressluftflasche. Die Atemregler sind viel zu laut, die Luftblasen verscheuchen die Haie.

Leise tauchen wir ein. Kaum sind wir alle im Wasser, schwimmt das mächtige Raubtier auch schon auf uns zu. Nein, dies ist nicht der richtige Moment, um die Kamera einzustellen und Fotos zu machen. Wir müssen als Allererstes an unsere Aufgabe denken. Fred richtet seine Harpune auf den Weißen Hai, der mit tiefen Narben übersät ist. Die Wunden stammen von Kämpfen mit Artgenossen. Oder sind es die Bisse eines Liebesaktes? Der Hai umkreist uns, ist links, rechts, vorn, hinten, lauert, zögert, blickt uns aus blauen an. Sein Maul ist breit, fast wirkt es so, als grinse er uns an. Ein Lächeln wie in Stein gehauen. Er kommt näher, schlägt mit dem Schwanz. Kräftig, selbstbewusst. Fred drückt ab, wir können das Zischen des Speers unter Wasser hören. Dir Spitze trifft seine Flanke, ein genauer Schuss – der Sender bleibt in der dicken Haut stecken. Überlegen schwimmt der Hai weiter und hat nicht einmal gezuckt. Als wäre nichts geschehen, dreht er ab ins tiefe Blau. Er hat anscheinend kein Interesse an Typen, die ihn erforschen wollen. Steven Spielberg ist ganz weit weg. Der Große Weiße gibt sich bei dieser ersten Begegnung eher neugierig, fast verspielt.

Weißer Hai
Weißer Hai/Foto:Oleksandr Sushkov/unsplash.com

Wieder im Boot sagt Mauricio, dass er gespannt auf die Daten ist, die der Sender von diesem Hai schicken wird. Mauricio sagt das völlig unaufgeregt. Als hätten wir gerade eben einen Goldfisch mit dem Zahnstocher geärgert. Die Fotos, die wir am Ende doch noch machen konnten, zeigen, dass ein Weibchen ist. Wir nennen es Dotty.

Seit einer Woche sind wir auf Guadelupe, Mexiko. Die Insel im Pazifik ist bekannt als Revier der Weißen Haie, zweihundert Kilometer vom nächsten Land entfernt. Hier gibt es die größte Dichte von Haien auf der Welt. Im Herbst fressen sie sich vor Guadelupe den Winterspeck an, verspeisen Thunfische, Schnabelwale, Kalmare und See-Elefanten, die tausend Kilo schwer sein können. Dann ziehen die Haie knapp viertausend Kilometer weiter in ein anders Revier nahe Hawaii. Es heißt White Shark Café, denn auch dort gibt es reichlich Nahrung. Mehr als 120 Haie wurden schon markiert und für das „The Watermen Projekt“ wissenschaftlich erforscht. Dahinter steckt eine Non-Profit-Organisation in der Schweiz, die sich dem Meeresschutz verschreibt. Auch wir sind für das Projekt unterwegs. Unser Ziel: den Haien neue, hochmoderne Sender mit auf den Weg zu geben, um noch mehr zu erfahren über Paarung, Jagd, Verhalten, über die Beziehung der Haie untereinander. Wir bezeichnen das als Interaktion.

Der Weiße Hai. Für uns heißt die Begegnung mit ihm vor allem eines: ihn zu achten, Respekt zu zeigen für ein Tier, das seit vierhundert Millionen Jahren existiert und nur seinen Instinkten folgt. Es ist kein Monster, kein Killer. Es sterben mehr Menschen am Gift von Quallen. Selten ein Jahr, in dem es weltweit mehr als zehn Tote bei Haiattacken gibt. Viel häufiger töten wir die Haie, zu Millionen. Weil ihre Flossen so lecker in der Suppe schwimmen. Weil manche ihr Gebiss als Trophäe wollen. Der Große Weiße ist vom Aussterben bedroht. Und darum sind wir in erster Linie hier: um ihm durch Forschung das Leben zu sichern.

Wir wissen, das Risiko taucht immer mit. Denn im Gegensatz zu den meisten anderen auf Guadelupe tauchen wir ohne Käfig. Nicht wie die Touristen hinter Gittern, von denen es hier inzwischen viele gibt. Sie können sich fast gefahrlos auf so ein Rendevous einlassen, können dem Räuber bis in den Rachen gucken. Auch uns Freitauchern kommt der Riese sehr nah, aber wir haben stets im Hinterkopf: Er ist ein scheues Tier, das dich in Stücke reißen kann. Natürlich sind wir uns dessen bewusst. Alle, die wir hier sind und ohne Schutz zu ihm ins Meer steigen. 

Da ist als Erstes Mauricio Hoyos, der führende Weißhaiforscher von Guadelupe. Er macht seit Jahren Studien und wertet die Signale der Sender aus. Er ist so oft im Wasser, wie es nur geht. Mauricio spricht vom schönsten Job der Welt.

Da ist Fred Buyle, der belgische Fotograf. Er lebt auf den Azoren. Das Grün des Meeres, die Berge, die Wälder – vieles hier erinnert ihn an sein Zuhause. Ein Draufgänger, stark, zäh, machte sich als Freitaucher einen Namen. Als ich zum ersten Mal seine Bilder sah, dachte ich an Fotoshop. Glaubte, so friedlich können keine Weißen Haie sein. Damals wusste ich es noch nicht besser.

William Winram, mein Fürsprecher. Ich entdeckte ihn auf Freds bildern, er schwebte still und ehrfürchtig neben den Haien. Das Meer hat die beiden zu Freunden gemacht. William brachte mir den letzten Schliff beim Tauchen bei. Sein Vater war Unterwasserschweißer. Oft hielt sich William als kleiner Junge an ihm fest, ließ sich von ihm durchs Becken ziehen. Bis heute will er wissen, was ein Mensch alles aushalten kann. Er hat zwei Weltrekorde im Apnoetauchen aufgestellt.

Ismahel, der Kapitän. El Capitán. Wenn wir ihn so rufen, lacht er stolz. Spricht wenig, nuschelt nur. Aber eine Handbewegung reicht, um uns Gringos zu zeigen, was er will. Seit Mauricio ihn als Skipper hat, gibt es keinen Ärger mehr mit den Fischern. In dieser Gegend können sie sehr ungemütlich werden, wenn du ihnen in die Quere kommst.

Ich selbst bin Biologe, 31 Jahre alt. Meinen ersten Hai sah ich in Düsseldorf. Mit gerade mal zwei Jahren presste ich meine Nase an die Scheibe in einem Zoo. Starrte Riffhaie an, stundenlang, und liebte sie sofort. Als ich nach Hause kam, malte ich sie, immer wieder. Mein Vater brachte meinem Bruder und mir später das Freitauchen bei, in jedem Urlaub schnorchelte er mit uns. Er ist ein Abenteurer, mein Held. Er zeigte uns, dass jedes Tier, das da draußen lebt, wild ist und dass wir es nicht besitzen können. Ob Karpfen, Fliege oder Bär. Er machte nie Unterschiede. Doch keine Kreatur faszinierte mich so sehr wie der Hai.

Weißer Hai
Gerald Schömbs / unsplash.com

Nach dem Abitur lag das ganze Leben vor mir. Nur die Ideen fehlten. In Südafrika machte ich ein Praktikum und arbeitete bei einem Tauchanbieter in Kleinbaai. Half als Decksjunge aus, um für Touristen in der Robbenkolonie Dyer Island Weiße Haie aufzuspüren. Die Nähe zur Natur packte mich wieder, diese tiefe liebe zum Hai – obwohl ich in Afrika eines Tages den toten Körper eines Tauchers sah, der am Meeresgrund nach den begehrten Abaloneschnecken gesucht hatte. Ein Großer Weißer hatte ihn gebissen, der Hai war wohl auf eine Robbe aus gewesen.

Eines Tages traf ich in meiner Lieblingsbar zufällig einen kräftigen Kerl, der Andre Hartman hieß. Er war der Erste überhaupt, der außerhalb des Käfigs mit Weißen Haien tauchte. Er fasste ihnen sogar ans Maul, wie einem Schoßhund. „Der mit den Haien flüstert“, schrieben die Zeitungen. Ich bewunderte ihn. Leider erlitt er kurz nach meiner Abreise aus Südafrika einen Schlaganfall. Wir verloren uns aus den Augen, doch meine Begeisterung für die Haie hatte nur noch weiter zugenommen.

Ich begann mit dem Studium und schrieb jedem Taucher in der Welt, jedem Fotografen, jedem Wissenschaftler: Denn ich wollte selbst mit ihnen tauchen. Dann stieß ich auf die Fotos von Fred Buyle. Sie zeigten William Winram mit Weißen Haien. Bilder von unglaublicher Schönheit, Stille, Eleganz und Sanftmut. Mir blieb die Luft weg. Ich mailte ihm, zwei Wochen später skypten wir. Über drei Stunden lang. William wurde mein Mentor, er verstand meine Träume, ohne lange zu fragen. Und schon bald durfte ich die erste Forschungsexpedition mit ihm machen.

Vor zwei Jahren trafen wir uns dann zum ersten Mal auch mit anderen auf Guadelupe. William, Fred, Mauricio, Ismahel und ich. Wir tauchten mit der Genehmigung der Regierung und des Nationalparks, die es nur für wissenschaftliche Zwecke gibt. Die Auflagen sind streng, weil sie dem Schutz der Haie dienen. Damals lebten wir auf einem Boot, waren die ganze Zeit auf dem Meer. Und schon bei der ersten Expedition lernten wir Emma und Gianna kennen. Allen Weißen Haien, die einen Sender verpasst bekommen, geben wir Namen. So können wir sie besser auseinanderhalten.

Auf dieser Reise ankert Mauricios Schiff in der Bucht. Als Basis nutzen wir eine Bruchbude am Strand, der das Dach fehlt. Wir schlafenb in einem alten Hochbett. Kakerlaken krabbeln, an den Wänden klettern Spinnen. „Pass auf, das sind schwarze Witwen“, warnt Mauricio. „Wir haben nur zwei Dosen Gegengift.“ Die Spinnen können für uns gefährlicher sein als jeder Hai.

Der nächste Tag, Sonne, klarer Himmel. Wir trinken grünen Tee, essen fast nichts. Freitaucher frühstücken wenig, denn ihr Blut soll gleich beim Tauchen so viel Sauerstoff wie möglich transportieren. Ein voller Bauch, der zu viel wichtige Energie für die Verdauung verbraucht stört nur. Es würde wertvolle Zeit unter Wasser kosten. Wir können die Seehunde hören, die auf er Insel leben. Sie brüllen, die Luft flirrt vor Hitze. „Vamonos“, ruft Ismahel und wir gehen runter zum Meer. Zeug für 26 Tage haben wir in das wackelige Fischerboot geladen. Kleidung, Technik, Harpunen, Anzüge, Proviant. Ismahel steht aufrecht im Heck, achtet auf das Muster der Wellen, dann gibt er Gas. Wir bereiten derweil die Harpunen vor, prüfen Batterien, Sender, Transmitter. Sie senden alle dreißig Sekunden Hochfrequenztöne aus. Mauricio hat überall unter Wasser Empfänger angebracht, die diese Töne speichern. So weiß er ganz genau, wann welcher Weiße Hai vor Guadelupe schwimmt.

Weißer Hai
Gerald Schömbs / unsplash.com

Wir sitzen auf den Planken. Warten darauf, dass sich eine Flosse im Meer zeigt, irgendwo ein Schatten durchs Meer zieht. Lange dümpeln wir auf den Wogen, den Blick stur aufs Wasser gerichtet. Wo Gianna wohl ist? Fünfeinhalb Meter lang, ein Weibchen, äußerst dominant. Ich bin ihr bereits vor zwei Jahren begegnet. Doch manche Haie sind nicht immer zur Interaktion bereit. Sie können als territoriale Tiere auch aggressiv werden. Manchmal ändert sich ihr Verhalten innerhalb von Stunden, und Gianna ist so ein Hai. Sehr launisch, die Dame. Sie soll nun von ihren anderen Revieren zurückgekommen sein, und gerade hören wir über Walkie-Talkie, dass sie von einem anderen Tauchboot gesichtet wurde. Wir haben nur noch eine Stunde Licht. Das ist nicht viel Zeit, denn diesmal wollen wir eine Biopsie durchführen, dem Hai ein Stück Gewebe entnehmen. Mit der DNA will Mauricio mehr über die Strukturen ihrer Verwandtschaft rauskriegen. Wir fahren rüber zum anderen Boot. Und kaum sind wir da, tauchen zwei junge Männchen auf. Vier Meter. Von Gianna keine Spur.

Wir steigen ins Wasser. William gibt mir die Harpune. Falls Gianna auftaucht, soll ich die Biopsie besorgen. William taucht ab, Fred und ich folgen ihm. Plankton glitzert, fällt wie grüner Schnee. Es blendet uns, Sicht: fünfzehn Meter. Vor uns die Männchen, sie schlagen mit den Schwänzen. Schießen plötzlich weg. Aber nicht wegen uns. Unter uns erkennen wir plötzlich einen gewaltigen Umriss. So schwimmt nur Gianna. Sie ist spürbar, überall. Kein Männchen würde ihre Dominanz in Frage stellen. Sie kreist, beäugt uns aus allen Winkeln. Dann kommt sie auf mich zu. Langsam und senkrecht steigt sie aus der Tiefe empor. Ich schwimme ohne laute Bewegung auf sie zu, neben mir William und Fred. Doch die Weiße Haidame ist scheu und dreht ab. Verrückt: Sie ist zwei Tonnen schwer – aber läßt sich offensichtlich von einer Harpune beeindrucken. Ich fühle meinen Teil der Interaktion, die ander Hälfte liegt nun bei ihr.

Sie entscheidet sich, uns aus der Tiefe zu beobachten. Die Sonne sinkt, mir bleiben nur noch zehn Minuten für den Schuss. Ich stecke den Kopf aus dem Wasser, sage zu William: „Wir sollten ihr mehr Raum geben.“ Aber da höre ich Freds „Dü, dü, dü“ – das Zeichen, das ein Hai kommt. Gianna hat den toten Winkel ausgenutzt, schwimmt wieder auf uns zu. Kommt näher und näher. Aus nur einem Meter Abstand drücke ich schließlich ab. Der Speer trifft und fällt von der Flosse ab. Gianna schüttelt sich. Sie weiß, dass wir keine Beute sind. Schwimmt ums Boot, kreist, schaut uns an. Ich hole die Leine mit der Harpunenspitze ein, ziehe mich aus dem Wasser. Mauricio greift sich die Probe mit der Pinzette, legt das Muskelgewebe sofort in Alkohol. Wir alle wissen: Für heut reicht es. Wir kennen die Haie inzwischen zu gut. Und Giannas Bewegungen, ihre Art zu schwimmen, sprechen eine Sprache: Irgendwann ist Schluss mit Spielen, und dann bist du besser raus aus dem Wasser.